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sein Hans nach ihm jammerte, aber über die
Schilderung hinaus, wie still er immer sei und
auf ihn warte, verstieg sich der Brief doch nicht.
Es war eben so schwer, das, was so leicht zu
sehen war, auf dem Papier wiederzugeben. So—
biel ersah indeß Hansens Vater, daß sich sein
kleiner Junge nach ihm sehnte, und er suchte in
einem langen Brief den Kummer zu beschwichtigen
und alles anzuführen, was ein Trost sein konnte
und eine Hoffnung bald nach Haus zu kommen.
Der Brief war zwar an die Mutter gerichtet,
aber Hans war doch mit jedem Wort gemeint.
Grammatik und Orthographie hatten sehr wenig
Antheil an dem Schreiben, desto mehr das Herz
und wer es mit diesem zu lesen verstand, begriff
auch, warum Hans seinen Vater so lieb hatte
und warum es wie eine Verklärung über das
blasse, magere Gesichtchen glitt, als der Brief
vorgelesen wurde. Mutter und Großmutter hofften
schon, es würde nun mit Hans besser werden und
suchten die freudige Erregung zu benutzen, um
ihn zu veranlassen, etwas von den guten Dingen
zu genießen, welche theilnehmende Spender dem
tkrauernden Kinde gebracht hatten: von einer
freundlichen Nachbarin einige besonders schöne
Aepfel, von einer andern feines Weizenbrod aus
der Stadt, Kuchen von der Frau des Pastors
und sogar ein Töpfchen mit Honig von der des
Schullehrers. Wie schnell hatte Hans sonst. mit
diesen Dingen aufgeräumt, seit einigen Tagen
schon hatte er aber nichts als Milch genossen
und diese nur auf dringendes Zureden der Mutter.
Jetzt nahm er auch, gehorsam das Dargereichte
an, vergaß aber bald den Zweck desselben und
müde zusammengekauert auf seinem kleinen Schemel
sitzend hielt er Vaters Brief fest, indem er manch—
mal mit dem Finger über die Zeilen fuhr und
das Vorgelesene wiederholte. Den Brief gab
Hans nicht wieder her, sogar als er zu Bett ge—
bracht war, hielt er ihn so fest im Händchen,
daß es nicht gelang ihn aus den, ihn umklam—
mernden Fingerchen zu lösen. „So müde und
schwach wie heute ist er noch nie gewesen, gut,
daß er so früh zu Bett verlangte, der Schlaf
wird ihn stärken“, meinte die Mutter, und zur
Großmuͤtter sich wendend machte sie diese auf
die tiefliegenden, wie eingesunkenen Augen und
das abgehärmte, gar nicht mehr kindliche Ge—
sichtchen des kleinen Schläfers aufmerksam. Un—
willkürlich die Hände faltend schickten die beiden
armen Frauen eine Bitte um Hülfe aus ihrem
geängsteten Herzen zu dem, der allein helfen kann.
Und die Bitte fand Erhörung, wenn auch
anders, als die bekümmerten Weiber dachten.
Die matte Wintersonne war schon lange aufge—
gangen und Hans noch immer nicht erwacht.
Anfaängs hielt die Mutter dieses für ein gutes
zeichen und vermied jedes Geräusch, um ihm so
ange wie möglich die Wohlthat des Schlafes
ukommen zu lassen. Schließlich dauerte es ihr
iber doch zu lange und sie wollte ihn wecken,
zamit er erst etwas Milch genösse. Mit einer
Tasse des warmen Getränkes in der Hand, in
velches sie, ein außergewöhnlicher Luxus, sogar
twas Zucker gethan hatte, um es annehmbarer
u machen, trat sie an Hansens Bett, ihn er—
nunternd äaufzuwecken. Da er nicht hörte, be—
ührte sie leicht seine Wange, um mit entsetztem
lusdruck gleich darauf noch einmal prüfend die
zand darauf zu legen. Was war das! Großer
Hott, was war das? Er war kalt, kalt und
teif, ihr kleiner Hans war fortgegangen, still und
eise war die kleine Seele entwichen dahin, wo
eine Sehnsucht ungestillt bleibt. Die Großmutter,
velche schon an manchem Todtenbette gestanden,
ah es gleich, daß das Kind todt war.
Das ganze Dorf nahm Antheil, Jeder wollte
den kleinen Dulder noch einmal sehen und Jeder
rachte eine kleine Gabe mit, eine Blume, ein
gand, einen Zweig, um ihn still neben der kleinen
deiche niederzulegen. Nicht genug konnte darüber ge—
redet werden, daß Hans auch im Tode den Brief des
zeliebten Vaters nicht losließ, so daß er ihn mit
in den Sarg bekam, was die Großmutter nur
opfschüttelnd geschehen ließ. „Das bedeutet nichts
ßutes, das nimmt den Schreiber mit“, meinte
ie. Doch nicht der Aberglaube, die milde Hand
Hottes, welche die Thränen trocknet, die das Leben
oerschuldet, vereinte das Kind mit dem Vater.
An einer französischen Landstraße unter einem
Baume lag er, bei einem Ausfallgefecht von der
rödtlichen Kugel getroffen an demselben Tage,
als man seinen Liebling zu Grabe trug.
Diese kleine Geschichte wird nie vergessen werden,
wvenn die Zeit über die, welche sie miterlebten,
»ahin gegangen sein wird. Einen Ideengang
rweckt sie aber, der losgelöst von den soeben er—
ählten Thatsachen weiterer Beachtung werth ist
und das Gebiet des Psychologen und Kultur—
historikers berührt. Ohne mich so weit zu versteigen
nöchte ich doch, als Denkmal auf das Grab des
leinen Hans, dem Bauernstande das Wort reden
ind ihn, der im engern Zusammenhange mit,
ind in größerer Abhängigkeit von der Natur
yr auch mehr Anhänglichkeit bewahrt, als den
Wall bezeichnen, welcher der nivellirenden Kraft
des modernen Geistes Widerstand leistet und in
einem Schoße die Güter birgt, welche die Lebens—
ähigkeit einer Nation bedingen. Allem voran
»ie Treue. Nicht bloß für Gott und König, auch
ür die angestammtenEigenthümlichkeiten undUeber—
ieferungen. Was im Gedächtniß der Gebildeten
ängst untergegangen war, im Herzen des Volkes
ebte manch alter Sang, manch bedeutungsvolle