262
Mühen gegen unbekannte Gefahren einzutauschen.
So stolz auch die Herzen klopften, die Augen
blieben doch nicht thränenleer und Seufzen und
Klagen mischten sich in die begeisterten Lieder.
Kein Blick aber war bekümmerter, kein Schmerz
ergreifender, als der wort- und thränenlose des
fünfjährigen Hans. Sein lieber Vater sollte fort,
für lange Zeit fort von ihm. Dem Kinde, das
noch keine Erfahrungen hatte und sich durch keine
Reflexionen trösten konnte, erschien die unab
änderliche Thatsache als ein gar nicht auszu
denkendes Schreckniß. Nur wer als Kind Aehn-
liches erlebt, kann solche Angst nachempfinden,
welches vor einem großen, bis dahin unbekannten
Schmerz steht, den zu übersehen, sein kleiner Ver
stand nicht ausreicht, und der ihm deshalb ohne
Ende erscheint. Mutter und Großmutter waren
wohl auch gut, aber mit dem Vater war es doch
anders. Wenn er auch nach Bauern-Art nicht
viele Worte machte, der warme Blick, mit welchem
er Hans ansah, erschloß ein inniges Verständniß
und im Liebkosen der harten, arbeitgewohnten
Hand lag für Hans soviel Beruhigendes, daß
das schon genügte, um sein kleines Herz leicht
und fröhlich zu machen. Hans war noch zu klein,
um es sich klar zu vergegenwärtigen, wieviele
Tage und Stunden getäuschter Hoffnungen und
Erwartungen für ihn nun folgen mußten, aber
eine bange Ahnung überkam ihn, von all dem
Jammer, all der Sehnsucht und trostloser Ver
lassenheit, die ihm die Zukunft brachte, als er
seinen Vater mit andern Landwehrmännern fort
ziehen sah, und noch lange stand er und sah nach
der Biegung des Weges, von wo aus ihm der
Vater das letzte Mal zugenickt und ihn, mit der
Hand winkend, gegrüßt hatte. Dann schlich er
nach Haus. Auf dem Tische standen noch die
Reste des einfachen Abschieds-Imbisses; der
Stuhl, auf dem der Vater gesessen, war noch in
derselben Stellung, wie er beim Aufstehen gerückt
war. Da lag auch noch der besonders gute
Bissen, welchen der Vater seinem Liebling zuge
steckt hatte, den Hans aber vor Herzeleid nicht
hatte essen können. Jetzt ging es ebenso wenig.
Der Hals war ihm wie zugeschnürt und auf der
Brust lag eine Last, die selbst der große Seufzer
nicht erleichtern konnte, mit dem Hans die letzte
Liebesgabe des Vaters in die Tasche schob. Was
sollte er nun thun? Jetzt war alles zwecklos.
Sonst um diese Zeit hatte ihn die Mutter
gerufen, daß er das Mittagsbrot dem bei der
Arbeit weilenden Vater hinaus trage. Bald in
den Wald, wo er Holz fällte, bald auf das Feld,
das den einzigen Reichthum der kleinen Familie
bildete. Wie hatte er es immer eingerichtet, daß
ihn die Mutter nicht erst zu suchen brauchte, wie
hatte er sich gefreut, wenn es Vaters Lieblings
speise gab, wie sorgsam hatte er den Henkeltopf
getragen, erstrebend so schnell wie möglich
vorwärts zu kommen und nichts zu verschütten.
Ja, nun war alles zwecklos, jetzt wartete er nicht
mehr ans den Ruf der Mutter. Diese stand mit
der Großmutter auf der Straße, das Unglück
mit der Nachbarin besprechend und wieviel mehr
es nun für sie zu thun gäbe. Sie hatte kaum
Zeit, dem eigenen Kummer nachzuhängen, viel
weniger dem des kleinen Hans besondere Auf
merksamkeit zu schenken, und wenn auch dessen
unsagbar trauriges und ernstes Gesichtchen ihnen
zeigte, was er litt, so trösteten sie sich damit,
daß ein Kind leicht vergißt und es in einigen
Tagen anders sein würde. Es galt doppelt zu
schaffen, da die Stütze fehlte, welche so getreulich
den größten Theil der Mühen auf sich genommen
hatte, und arme Leute nehmen im allgemeinen
die Noth des Lebens als etwas Selbstverständliches
hin, so daß die Mutter sich nicht mehr wie ge
wöhnlich um Hans kümmerte. Die Großmutter
aber ging nach der Stadt, wo sie einen kleinen
Verdienst fand. So war Hans sich selbst über
lassen. Am liebsten saß er unter den herab
hängenden Zweigen einer Hecke, von wo aus er
am besten die Krümmungen der Straße übersehen
konnte, und so oft ihn auch andere Kinder zum
Spielen oder Beerensuchen mit fort nahmen, er
kehrte immer wieder dahin zurück. Die Kunde
von den großen Siegen, welche das deutsche Heer
weiter von Deutschlands Grenzen hinweg in das
Innere Frankreichs drängten, war auch in dem
kleinen Dörfchen, wo Hans wohnte, mit Jubel
und Hoffnung aufgenommen. „Nun kommt der
Vater bald zurück", so wurde Hans auf seine
kindlichen Fragen getröstet; die ihm schon so oft
wiederholte Versicherung gewann noch einmal an
Wahrscheinlichkeit und freudige Erwartung im
Blick und neubelebte Hoffnung im Herzen saß
Hans wieder Tag für Tag auf seinem Beobachtungs
posten und spähte die Landstraße entlang, ob
endlich, endlich der Erwartete käme. Als aber
die Tage kürzer wurden und die Zeichen des
herannahenden Winters sich einstellten, da erlosch
die Hoffnung, welche die freundliche Herbstsonne
dem armen Hans in das Herz gelächelt und eine
große Traurigkeit überkam ihn. „Der Vater
kommt nun nicht mehr", setzte er allen Trost
gründen und Verheißungen entgegen, und so fest
war er davon überzeugt, daß er nicht mehr den
Weg entlang forschte, daß er nicht einmal mehr
in das Freie gehen wollte. Wie lange hatte kein
Lächeln das tiefernste Kindergesichtchen erhellt,
wie mager waren Bäckchen und Arme geworden
und wie stumm der kleine Mund.
Dem braven Landwehrmann in Frankreich war
es allerdings von der Mutter mitgetheilt, wie