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MS einem
Kasseler Kürgerhause vor 68 Fahren.
Von W. Dogge -Ludwig.
s ist ein gar inniger, seelischer Zusammen
hang zwischen dem Kindheits- und dem
Greisenalter. Je älter man wird, um so
lieber versenkt man sich in Erinnerungen an die
nm weitesten zurückliegende Zeit seines Lebens
und während später oft viel wichtigere Ereignisse
unserem Gedächtniß säst spurlos entschwunden
sind, sind ihm solche aus der Kindheit um so
lebendiger in Erinnerung geblieben. Es hat dies
einen sehr natürlichen Grund. Die ersten Ein
drücke waren als solche die stärksten und um so
bleibender, als das Denken und Fühlen des
Kindes noch vollständig von dem Vorkommniß
beherrscht und noch nicht wie im späteren Leben
gleichzeitig durch andere sein Gemüth bewegende
Gedanken und Gefühle abgelenkt wurde. Es ist
dies eine Erfahrung, die wohl jeder im höheren
Lebensalter an sich selbst gemacht hat.
Meine Erinnerungen reichen über 60 Jahre
und in eine Zeit zurück, welche durch die in alle
Verhältnisse des Lebens so tief eingreifenden Er-
stndungen der letzten Jahrzehnte eine von der
jetzigen so gänzlich verschiedene war, wie es bei
einem gleichen Zeitraume wohl noch niemals der
Fall gewesen ist.
In meinen ersten Lebensjahren waren in meiner
Geburtsstadt Kassel die Gemüther noch von der
eben zu Ende gegangenen westfälischen Zeit und
den Befreiungskriegen lebhaft bewegt. Er
innerungen an die schmachvolle, für die Gewerb-
treibenden Kassels aber so Vortheilhaft gewesene
Zeit, als die Stadt die Hauptstadt eines Landes
von 680 Quadratmeilen mit 2 Millionen Ein
wohnern und die Residenz eines so überaus ver
schwenderischen Königs gewesen war, bildeten noch
tmtner den Hauptgegenstand der Unterhaltung.
Dabei wurde aber auch die allgemeine Freude
bei Rückkehr des Kurfürsten, welcher freilich bei
dem Rückgänge aller Geschäfte und der in der
Stadt eingetretenen Stille einige Ernüchterung
gefolgt war, ebensowenig vergessen, als die große
und allgemeine Begeisterung der Zeit der Be-
freiungsmege. An diese letzteren erinnerten, wie
fast in allen Familien, auch bei uns zahlreiche
Bilder von den Helden dieser Kriege, sowie der
in Kassel zuerst eingezogenen russischen Generale.
Kaum minder zahlreich fanden sich daneben aber
auch Bilder, welche zur Verherrlichung Napoleons
dienten, namentlich bei allen denen, welche Unter
seinen Fahnen gefochten hatten. Auch in unserer
Kinderstube wurde die Erinnerung an ihn lebendig
erhalten, aber nicht an seine Ruhmesthaten, sondern
an seinen tiefen Fall. Wir hatten zum Spiel
zeug einen großen Guckkasten, welcher nur Spott-
bilder auf den einst so gewaltigen und gefürchteten
Kaiser enthielt, so eins, auf welchem er von
Blücher einen Nasenstüber erhält, und ein anderes,
welches ihn auf St. Helena darstellt, wie er in
großer Uniform eine mit Orden geschmückte Ar
mee von Ratten kommandirt. Dabei erzählte
uns dann unsere Wärterin gar viel von ihren
Schicksalen und denen unseres Hauses in der
westfälischen Zeit, von dem Ein- und Abzug
der Franzosen, der französischen und der nachher
noch viel schlimmeren russischen Einquartierung.
Aus der westfälischen Zeit stammten bei uns
zwei kostbare marmorne Büsten des Königspaares,
welche wohl aus einem andern Grunde, als aus
Verehrung für diese von meinem Vater erworben
waren, da er auih in dieser Zeit seinen deutsch
patriotischen Sinn mehrfach bethätigt hatte.
Einen Fall dieser Art erzählt Lynker in seiner
Geschichte der Insurrektionen wider das west
fälische Gouvernement. Unter den im Jahre
1809 wegen Theilnahme an der Dörnbergschen
Verschwörung im Kasseler Kastell Verhafteten
befanden sich auch drei meinen Eltern bekannte
westfälische Officiere, die Lieutenants Berner,
Giesewald und Schmalhaus. Da ihre Bewachung
keine besonders strenge war, namentlich Speisen
und Getränke aller Art ohne Schwierigkeit an
sie gelangten, so gründete mein Vater hierauf
den Befreiungsplan. In Weinkrügen ließ er
ihnen Feilen und Scheidewasser zur Beseitigung
der vor ihrer Zelle befindlichen Gitter und außer
dem einen Strick zum Herablassen in einen unter