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Kenz.
Hast du, wärmende Lenzessonne,
Heißen Abschiedskuß auf das silberhaarige.
Sterbende Haupt
Greisen Winters gedrückt
Und bei Zephyrs Gesang durch helle,
Gold'ne Strahlen Blumen und Gräser, Wiesen und
Auen und Hag
Langem Schlummer erweckt;
Dann entsprießet des Dichters Busen
;>.aanches Lied von minnigem Gruß, und sehnende
Liebe entquillt
Ueberströmend der Brust.
Still! die Nachtigall jubelt. Hörst du,
Wie der Abendwind in den Bäumen lispelt und
Flüstert und raunt?
Hörst du, hörst du es wohl?
Und da drunten im Thäte einsam
Ruht und träumt beim Ton der Schalmei der
fröhliche
Hirte, nur dich,
Dich im Herzen, Natur!
Johann KerrraUev.
Aphorismen.
Wenn wir immer nur dem Verstände folgen
wollten, so würde manche schöne und edle That
ungeschehen bleiben. Auch die Stimme des
Herzens weist uns oft auf den rechten Weg,
räth uns was wir zu thun oder zu lassen haben
und leitet uns als sicherkundiger Führer zum
Ziele.
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Die Thorheit liebt zu schwatzen, die Weisheit
aber kargt mit Worten, werk ihr diese als Ver
mittler von Gedanken gelten.
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Wer Null und Nichts zu verbinden sucht, wird
immer einen glatten Rechnungsabschluß haben,
ein Facit, das an Klarheit nichts zu wünschen
übrig läßt.
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Drei Dinge sind, die jedem Manne zur Zierde
gereichen. Nur selten von sich selbst, von den
Verdiensten Anderer mit rückhaltloser Anerkennung
und niemals um des Redens selbst willen zu
reden.
Wie auch das klarste Bild in erkrankten Augen
getrübt oder verzerrt erscheint, so gerathen in
konfusen Köpfe» selbst die einfachsten Wahrheiten
in Verwirrung, verwandeln sich in Seltsamkeiten
oder Marotten, die besonders da bedenklich werden,
wo sie Anspruch aus eine ernste Würdigung er
heben.
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Aller Gesänge mächtigsten nenne ich Dich, ur-
ewiger Dreigesäng der Zeittöchter, deren die
älteste vom Gewesenen, die andere von dem was
ist und mit tiefherabgezogenem Schleier die dritte
vom Zukünftigen fingt; — inhaltlich verschiedene,
aber in gleichen Rhythmus tönende, sich gegen
seitig ergänzende und erklärende Strophen, wie
die dreigestaltige Mutter sie lehrte, die eud-
und anfanglose. Alles bewältigende, den Willen
der Menschen und Götter zwingende Zeit.
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Um den Weg zum wahren Glücke finden zu
können, müssen uns zwei Gefährten zur Seite
gehen, zur linken die Liebe und zur rechten die
Freundschaft.
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Ein kluger Musiker stimmt erst sein Instrument,
ehe er seine Weisen spielt, und ein Verständiger
bedenkt und prüft zuvor, was er sagen und ge
hört wissen möchte.
Aus alter und «euer Zeit.
Nekrolog. Wenige Wochen sind verflossen, seil wir
das Hinscheiden eines rühmlichst bekannten hessischen
Künstlers, des Geheimen Hofraths Ludwig Sigismund-
Ruhl, des ehemaligen Direktors der hiesigen Akademie
der bildenden Künste, zu melden hatten, heute liegt
uns die Pflicht ob, einem seiner hervorragendsten
Schüler den Nachruf zu widmen. Am 31. März
starb zu Düsseldorf an Herzlähmung der Land-
schafts- und Genremaler August Lev in von
Wille. Derselbe wur 1829 zu Kassel geboren, wo
sein Vater als Konsistorialdirektor wirkte. Seine
Mutter, eine geborene v. Hachenberg, war vom Land
graf Friedrich II. über die Taufe gehalten, worden,
nnd seine Großmutter versah die Funktionen einer
Hofdame bei der Landgräfin Philippine. Schon
frühzeitig zeigte A. L. v. Wille Neigung nnd Talent
für die Malerei. Sich für diesen Beruf vorzube
reiten und auszubilden, hatte er an der kurfürstlichen
Akademie der bildenden Künste die beste Gelegenheit.
Sein specieller Lehrer wurde der noch lebende hoch
betagte, als Künstler Lehrerund Schriftsteller gleich aus
gezeichnete Professor Friedrich Müller. Nachdem Wille
seiner — als Künstler einjährigen — Militärpflicht
bei dem hessischen Jäger-Bataillon genügt, wandte